Chantal Añibarro ist Soziologin und Speed Reading-Trainerin. Im Interview erklärt sie, wie diese Technik dabei hilft, Texte schneller zu lesen und die Inhalte besser zu verstehen. Auch für Schreibende kann es sich lohnen, schneller und gehirngerechter lesen zu lernen.
Chantal, wie bist du zum Speed Reading gekommen?
Ich habe Soziologie studiert. Das ist eine sehr textbasierte Wissenschaft, wir müssen für die Seminare wahnsinnig viel lesen. In der Verwandtschaft habe ich eine Speed Reading-Trainerin, bei der ich mal ein Seminar besuchte. Ich war begeistert, was für Fortschritte ich gemacht habe, und wie mir das geholfen hat, Texte schneller zu lesen und besser zu verstehen. Also habe ich beschlossen, dass ich diese Fähigkeit auch anderen weitergeben möchte, und habe mich zur Trainerin ausbilden lassen. Seitdem biete ich Speed Reading-Seminare an.
Was hat es mit Speed Reading genau auf sich?
Speed Reading ist eine Schnelllese-Technik, man könnte auch sagen, es ist ein gehirngerechteres Lesen. Langsame Leser:innen lesen in etwa mit einer Geschwindigkeit von 200 Wörtern pro Minute. Unser Gehirn kann jedoch bewusst mehr Informationen pro Minute verarbeiten und ist somit unterfordert. Es langweilt sich, die Konzentration sinkt. Man kennt das ja: Wir schweifen beim Lesen ab und denken zum Beispiel daran, was wir noch einkaufen müssen.
Was ist dabei der Unterschied zum Querlesen?
Wenn man einen Text überfliegt, schweifen die Augen in großen S-förmigen Linien über die Absätze, und man sucht ihn nach Stichwörtern ab. Beim Speed Reading liest man dagegen alles durch. Mit einer Lesehilfe wie dem Finger oder einem Stift fährt man dazu jede Zeile entlang. Durch die höhere Konzentration, die mit der Schnelligkeit einhergeht, gewinnt man ein höheres Textverständnis. Die nötigen Augenbewegungen lernt und trainiert man wie bei einer Sportart.
Das heißt, du trainierst deine Speed Reading-Fähigkeiten ständig?
Ich wende die Techniken ständig an und das trainiert natürlich meine Fähigkeiten kontinuierlich. Aber es fühlt sich nicht mehr so anstrengend an, wie zu Beginn. Das ist wie beim Joggen: Wenn man damit gerade erst anfängt, ist das auch qualvoll, aber irgendwann wird die Bewegung leichter.
Der Weltrekord beim Speed Reading liegt übrigens bei über 4000 Wörtern pro Minute. Die Weltrekordhalterin hat den siebten Harry Potter Band in etwa einer Dreiviertelstunde durchgelesen. Man hat ihr danach präzise Fragen dazu gestellt, und die konnte sie alle beantworten!
Beeindruckend! Das ist ja wirklich wie ein Sport. Für wen eignet sich diese Lesetechnik?
Je jünger diejenigen sind, die das Speed Reading erlernen, desto leichter fällt es ihnen. Natürlich ist das für Ältere nicht unmöglich, aber sie tun sich tendenziell schwerer damit, bestehende Gewohnheiten aufzubrechen. Wenn man jünger ist, ist man da flexibler. Empfehlen würde ich es aber allen, weil die Informationsflut immer mehr zunimmt. Je schneller wir relevante Inhalte aus einem Text erfassen, desto besser.
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Für welche Tätigkeiten würdest du Speed Reading nicht empfehlen?
Bei allen Korrekturarbeiten, bei denen wir auf kleine Details wie Kommasetzung oder Buchstabendreher achten müssen. Die fallen uns beim Speed Reading nicht auf, weil wir Wortgruppen mit einem Blick erfassen, um in Sinneinheiten zu lesen. Wenn es bei einem Lektorat darum geht, ob der Plot einer Geschichte funktioniert oder der rote Faden vorhanden ist, kann man Speed Reading anwenden. Bei den Feinarbeiten nicht.
Eignet sich Speed Reading für alle Textsorten?
Prinzipiell ja. Allerdings sollten die Texte, mit denen wir anfangen die Technik zu erlernen, unbedingt in der Muttersprache geschrieben sein. Es sollten einfache Unterhaltungstexte ohne Fremdwörter sein, die wir leicht erfassen können. Sobald man die Technik beherrscht, kann man sie auf alle Textsorten übertragen. Ich wende sie vor allem auf wissenschaftliche Fachtexte an. Wenn ich dabei über ein unbekanntes Fremdwort stolpere, halte ich einfach kurz inne und schlage es nach.
Man sagt ja immer: „Wer schreiben möchte, sollte viel lesen.“ Schreibende können also sicher auch vom Speed Reading profitieren …
Auf jeden Fall. Dabei geht es ja auch meist um muttersprachliche belletristische Texte, die leicht zugänglich sind. Es hat den Riesenvorteil, dass man mehr lesen kann, weil man schneller ist. Und man merkt sich besser, was man gelesen hat.
Gibt es auch Texte, die du langsam liest, weil du sie genießen möchtest?
Ich würde sagen, dass Speed Reading und „Genusslesen“ kein Widerspruch ist. Es gibt natürlich Texte, mit denen ich mehr Zeit verbringen und Formulierungen auskosten möchte. Dann lese ich die schönen Passagen nochmal und erfreue mich daran.
Lyrik ist vielleicht eine Textsorte, bei der es um Sprache und Genuss geht …?
Bei Lyrik ist die Bedeutung oft versteckt hinter den Wörtern, es gibt bestimmte Bezüge oder epochenspezifische Interpretationen. Um ein Gedicht zu interpretieren, muss man sich Gedanken machen. Aber auch da kann man sagen: Ich kann mein Tempo der Textsorte anpassen und ich kann mir immer die Zeit nehmen, das Gelesene zur Seite zu legen und darüber nachzudenken.
Wie kann man Speed Reading am besten lernen?
Ich empfehle ein Seminar zu besuchen. Dazu gibt es viele Angebote. Wenn man anfängt, Speed Reading zu trainieren, dann geht das Verständnis erst einmal in den Keller, denn zunächst geht es nur darum, die Geschwindigkeit zu steigern. Es kann frustrierend sein, wenn man das allein versucht, und dann motiviert der Austausch in der Gruppe. Ich würde aber nicht ausschließen, dass man es auch autodidaktisch schaffen kann. Dazu gibt es zum Beispiel das Standardwerk Speed Reading von Tony Buzan.
Was ist dein liebster Schreibtipp?
Einfach anfangen! Jede erste Fassung eines Textes ist weit davon entfernt, dass man damit zufrieden ist. Oder von Perfektion, falls es die überhaupt gibt. Auch wenn es nur Stichpunkte sind, oder wenn man in der einfachsten Alltagssprache schreibt: Einfach anfangen. Feilen wird man daran sowieso noch.