Annika Harrison hat Englisch und Geschichte auf Lehramt studiert und ist momentan in Elternzeit. Sie bietet Lektorat und Sensitivity Reading zu den Themen Bodyshaming, Fatshaming und Fettfeindlichkeit an. Übersetzungsdienstleistungen sind ebenfalls geplant. 2022 hat sie ihre Kurzgeschichtensammlung „Das Lindenlied“ auf der Plattform story.one veröffentlicht. Ich habe mit Annika über Sensitivity Reading gesprochen.
Annika, was genau ist eigentlich „Sensitivity Reading“?
Sensitivity Reading bedeutet, dass man Romane oder andere Texte vor der Veröffentlichung nach missverständlichen oder schädlichen Darstellungen durchschaut. Das hat nichts mit Zensur zu tun, sondern damit, dass man Menschen, die ohnehin schon marginalisiert sind, nicht noch weiter runterdrückt. Es geht darum, verschiedene Sichtweisen zu repräsentieren und alles diverser zu öffnen.
Im Bereich Fatshaming wäre das zum Beispiel, dass jemand schreibt: „Oh, das ist aber total ungesund“. Es geht auch darum, Klischees und Stereotypen aufzuzeigen. Wenn in einem Buch zum Beispiel ein „typischer Dicker“ vorkommt, der die ganze Zeit isst und dann vielleicht noch der Bösewicht ist. Oder wenn vermittelt wird, dass eine Person erst liebenswert sein kann, wenn sie abgenommen hat.
Alexandra Koch bietet Sensitivity Reading zur Darstellung körperlicher Behinderungen an. Sie hat einmal gesagt, dass der Rollstuhlfahrer in Büchern immer nur der ist, der am Fenster sitzt und zuschaut. Total passiv. Das ist auch so ein schreckliches Stereotyp, das überhaupt nicht stimmt.
Wie bist du auf Sensitivity Reading gekommen?
Ich bin auf Instagram bei Victoria Linnea darauf gestoßen, die Sensitivity Reading für People of Color macht. Das fand ich faszinierend und wichtig. Gleichzeitig habe ich von einer meiner liebsten Autorinnen ein Buch gelesen, in dem versehentlich Fatshaming vorkam. Sie meinte dann, sie hätte wohl doch lieber vorher ein Sensitivity Reading machen lassen sollen. Und da kam mir die Idee, dass ich das anbieten könnte.
Wie läuft ein Sensitivity Reading ab?
Es geht größtenteils darum, bei Autor:innen ein Bewusstsein zu schaffen. Das kann schon in einer vorhergehenden Beratung passieren. Zum Beispiel, wenn jemand plant, ein Buch über eine dicke Person zu schreiben, die am Ende dünn ist. Dann thematisiert man, warum das problematisch ist. Man kann einen ganzen Roman durchsehen, oder nur einzelne Textabschnitte. Und dann bespricht man, wie man die Figuren anders darstellen könnte.
Ist das Bewusstsein dafür schon in den Verlagen angekommen?
Der Trend geht langsam dahin, dass Verlage ein Sensitivity Reading bezahlen – aber noch nicht alle. Beim Selfpublishing ist das natürlich anders. Ich denke, viele Selfpublisher hätten vielleicht einen diverseren Cast, aber sie machen es nicht, weil sie es sich nicht leisten können. Wenn man das Sensitivity Reading selbst zahlen muss, überlegt man sich sicher dreimal, ob man repräsentiert …
… vor allem, weil es dabei so viele Bereiche gibt. Du hast ja schon People of Color, Rollstuhlfahrende und Fatshaming erwähnt …
Genau. Man braucht dann ja jeweils eine andere Person, die das macht. Ich habe People of Color oder Autismus gar nicht im Repertoire, denn man bietet Sensitivity Reading immer nur zum eigenen Thema an. Auf der Website sensitivity-reading.de bekommt man einen guten Eindruck davon, wie vielfältig die Bereiche sind: Religion, LGBTQIA, Geschlecht und Sexismus, Neurodiversität und vieles andere.
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Sollte ich als Autorin Beschreibungen des Körpers oder der Hautfarbe vielleicht einfach weglassen?
Wenn man die Beschreibungen weglässt, hat man wiederum das Problem, dass wir weißen Europäer:innen automatisch an „weiß und schlank“ denken. Stell dir jetzt einen Mann vor, der Arzt ist und einen blauen Kittel trägt. Sicher hast du ihn dir nicht fett und schwarz vorgestellt. Darum ist es eben auch wichtig, das Äußere zu beschreiben.
Worauf kann ich beim Schreiben achten, damit ich nicht in die typischen Fallen tappe?
Mein Tipp wäre, schon bei der Charakterentwicklung zu schauen: Ist die Person fett, weil das lustig ist? Ist sie der Tollpatsch, der Bösewicht? Oder ist sie einfach fett, weil sie ein Mensch ist? Ich persönlich finde Euphemismen ganz schrecklich. Manche finden das OK, aber ich finde „korpulent“ oder „plüschig“ nicht gut. Neutrale Beschreibungen wie „dick“ oder „fett“ finde ich besser.
Außerdem würde ich redundante Beschreibungen vermeiden. Ich habe mal einen Text gelesen, in dem eine Person erst dick war. Dann hatte sie Pausbacken. Und dann Wurstfinger. In jedem Satz wurde weiter betont, wie dick diese Person war. Man kann das einmal beschreiben und fertig. Gut ist auch, darauf zu achten, dass man es entkräftet, wenn eine Figur im Buch eine fettfeindliche Äußerung macht.
Eigentlich sollten alle, die schreiben oder mit Schreibenden arbeiten, für das Thema sensibilisiert werden.
Auch in einem normalen Lektorat sollte ich als weiße Person zum Beispiel beim N-Wort anmerken, dass das nicht geht. Darüber hinaus wäre es gut, auch im Lektorat oder Schreibcoaching ein Bewusstsein dafür zu entwickeln, an welchem Punkt ich der Person sagen sollte, dass ein Sensitivity Reading sinnvoll wäre.
Was würdest du dir für die Darstellung Mehrgewichtiger in Büchern oder Filmen wünschen?
Ich fände es total wichtig, das „Thin Privilege“ zu erwähnen. Dass man sich dessen bewusst ist, dass schlanke Menschen Privilegien haben. Wenn eine Protagonistin meine Körperform hat, kann sie nicht einfach in einen Laden gehen und sagen: „Oh, das ist eine schöne Jeans, die kaufe ich mir jetzt.“ Sie geht auch nicht einfach in eine Eisdiele, isst einen Eisbecher und liest dabei ein Buch: Erstens passt sie nicht auf die Stühle, und zweitens sitzt sie dort nicht in Ruhe, weil Leute sie anstarren oder etwas kommentieren.
Wichtig ist auch, nicht auf die Gesundheitsschiene zu gehen. Es ist egal, ob eine dicke Person damit gesund ist oder nicht. Abgesehen davon, dass das auch noch ableistisch ist, hat es niemanden etwas anzugehen. Die Person ist genauso viel wert wie andere Menschen auch.
Hast du Buch- oder Filmtipps, in denen das gut umgesetzt wird?
Ja, klar, zum Beispiel „Das Buch der gelöschten Wörter“ von Mary E. Garner und „15 Tage sind für immer“ von Vitor Martins. Den Film „Embrace“ kann ich auch empfehlen. „Nailed it“ ist eine Backshow, aber die Moderatorin ist dick_fett und darauf wird NULL eingegangen, sprich: Genauso, wie es sein sollte. Repräsentation, ohne mit der Nase hineingedrückt zu werden. Und am 19. Oktober erscheint das Buch „Respect My Size“ von Julia Kremer, indem es auch darum geht, Vorurteile und Bodyshaming zu überwinden.
Was ist dein liebster Schreibtipp?
Einfach machen! Damit meine ich nicht, dass man nicht plotten soll. Aber man sollte nicht zu perfektionistisch an die Sache herangehen. Einfach schreiben, schreiben, schreiben. Man findet dann schon etwas Gutes. Man kann aus einem Holz nur etwas herausschnitzen, wenn man das Holz schon hat.
Infos über Annika findet ihr auf ihrer Website und auf Instagram unter @annika__harrison. Hier geht’s zu ihrem story.one-Buch „Das Lindenlied“. Wissenswertes rund um das Thema „Sensitivity Reading“ könnt ihr auf dieser Website nachlesen.
Fotos: Scott A. Harrison