Ein Workshop mit Margaret Atwood war der Grund, warum ich mir ein Abo für die Hochglanz-Plattform Masterclass gegönnt habe. Auch viele andere Schriftsteller:innen geben dort Einblicke in ihr Schaffen. Einer von ihnen ist Neil Gaiman, der vor allem für seine Fantasy-Romane, Drehbücher und Graphic Novels (u.a. Coraline, Niemalsland, Sandman) bekannt ist. In seinem Workshop „The Art of Storytelling“ gibt er einige nützliche und originelle Schreibtipps.
Wir sind „storytelling creatures“!
Gaiman ist überzeugt, dass wir Menschen von Natur aus storytelling creatures sind. Die Frage ist: Wie schaffen wir es, Geschichten zu Papier zu bringen, die (gern) gelesen werden? „Fiktion muss so ehrlich wie möglich sein“, sagt Gaiman, „sie muss von Menschen handeln, die dir etwas bedeuten.“ Du spielst ein Spiel mit deiner Leserschaft, das lautet: „Was wird als nächstes passieren?“ Wenn dir deine Figuren wichtig sind, werden sie auch anderen etwas bedeuten und sie werden deine Geschichte zu Ende lesen.
Ideen haben wir oft. Aber haben wir damit auch schon eine Geschichte? Hierbei ist es laut Gaiman wichtig, zwischen Thema und Plot zu unterscheiden. Ein Thema allein reicht noch nicht aus. Ein klassischer Plot ist getrieben von einem Konflikt, der sich daraus ergibt, was die Figuren wollen. Eine seiner Lieblingsübungen für angehende Schreiberlinge lautet: Schreibe über zwei Figuren. Gib beiden einen sehnlichen Wunsch, ein starkes Ziel. Diese sind diametral entgegengesetzt, und nur eine Figur kann am Ende gewinnen.
Füttere deinen „inneren Komposthaufen“
Die Bücher, die wir lesen, und die Menschen, denen wir begegnen, lagern sich in uns wie in einem „Komposthaufen“ ab. Darauf wachsen irgendwann unsere Geschichten. Gaimans Tipp: „Schärfe deine Sinne im Alltag und öffne dich grundsätzlich für alles!“ Auch bei guten Songs sollten wir genau hinhören: Songwriter wie Lou Reed erzählen uns darin 3-Minuten-Geschichten. In einem Song ist die Zeit knapp, darum wurde jedes Wort sorgfältig ausgewählt. Davon können wir lernen.
Für einen frischen Blick auf altbekannte Dinge hat Neil Gaiman folgende Übung parat: Erfinde ein Märchen wie Schneewittchen völlig neu. Dabei kannst du die Geschichte komplett umdrehen. Was wenn Schneewittchen eine gefährliche Vampir-Prinzessin wäre und die Stiefmutter das Königreich vor ihr schützen muss? Oder du erfindest eine verrückte Situation mit den Passagieren, neben denen du gerade im Bus sitzt. Der Bus wird entführt. Was würde die Person neben dir tun? Reale Menschen sind so viel interessanter als alle Figuren, die wir erfinden könnten. Beobachte sie genau: Was sagen sie? Wie handeln sie?
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Habe Mut zu experimentieren
Neil Gaiman macht uns Mut, zu experimentieren, um unsere eigene Stimme zu finden. Wir können ruhig damit beginnen, andere nachzuahmen. Das Wichtigste ist, dass wir am Schreiben dranbleiben – und dabei ruhig auch Fehler machen. Unsere eigene Stimme ist schon da. Indem wir uns auf diesen Prozess einlassen, legen wir sie langsam frei: „Das Schreiben selbst zeigt dir, wer du bist.“
Gaiman rät uns, unsere Geschichten fertig zu schreiben und nicht ständig etwas Neues zu beginnen, sobald es schwierig wird: „Ein vollendeter Misserfolg ist immer besser als ein angefangener Erfolg.“
Lerne das Handwerkszeug mit Kurzgeschichten
Damit wir es schaffen, fertig zu werden, sollten wir laut Gaiman mit Kurzgeschichten beginnen: „Du brauchst dafür nur ein paar Tage. Sie sind quasi das letzte Kapitel des Romans, den du nicht schreibst.“ In einer Kurzgeschichte passiert meistens nur eine Sache. Je weniger Wörter wir dafür brauchen, desto besser.
Dialog und Figurenentwicklung gehören für Gaiman zusammen. Er schreibt keine Steckbriefe für seine Figuren, sondern überlegt sich, wie sie sprechen. Das verrät ihm, wie sie ticken. Einen guten Dialog zu schreiben heißt für ihn, seinen Figuren zuzuhören, als führte er mit ihnen ein Interview.
Zeichne die Figuren scharf
Wir sollten keine Angst haben, in uns selbst nach Charakterzügen unserer Figuren zu graben: „Finde den Teil von dir, der bösartig, kindlich oder alt ist.“ Nachdem Neil Gaiman seine Figuren erschaffen hat, bekommen sie ein Eigenleben – es ist, als würde er sie beobachten. „Vertrau der Figur und frage dich stets: ‚Würde sie das jetzt tun?‘“ Zeichne jede einzelne Figur scharf und grenze sie klar von den anderen ab. Und was, wenn du über Menschen aus Lebensbereichen oder Kulturen schreiben willst, die du noch nicht kennst? „Suche sie und sprich mit ihnen. Begegne ihnen mit Respekt.“
Im Workshop spricht Neil Gaiman außerdem darüber, wie er phantastische Welten erschafft und verrät seine Techniken für lebendige Beschreibungen. Es geht um Humor, um Comics und andere Genres, und natürlich um das große Thema „Überarbeiten“.
Ich habe einige ungewöhnliche Schreibtipps mitgenommen und Gaimans lockere, etwas schräge Art hat mich neugierig gemacht, noch mehr von ihm zu lesen.
(Bildquelle: commons.wikimedia.org)