Wer schreiben möchte, sollte lesen – dieser Tipp ist ein alter Hut. Wenn wir Kurzgeschichten oder ein Memoir schreiben wollen, sollten wir diese Gattungen natürlich kennen. Doch wie sollen wir eigentlich lesen? Möglichst schnell und viel, wie einige empfehlen? Oder langsam und gründlich?
Dass die Kunst des gewinnbringenden Lesens in der Langsamkeit liegt, davon ist Michael Duszat überzeugt. Er leitet das Online-Seminar „Deep Reading“ an der Textmanufaktur. Acht Wochen lang habe ich mich mit ihm und einem Dutzend Mitstreiterinnen auf dieses Leseabenteuer eingelassen. Das Spektrum der Texte reichte dabei von Theodor Fontanes Klassiker Effi Briest (1896) bis zu Das Mädchen ein halbfertiges Ding (2015) von Eimear McBride. Der erste Satz von Effi Briest lautet:
„In Front des schon seit Kurfürst Georg Wilhelm von der Familie von Briest bewohnten Herrenhauses zu Hohen-Cremmen fiel heller Sonnenschein auf die mittagsstille Dorfstraße, während nach der Park- und Gartenseite hin ein rechtwinklig angebauter Seitenflügel einen breiten Schatten erst auf einen weiß und grün quadrierten Fliesengang und dann über diesen hinaus auf ein großes in seiner Mitte mit einer Sonnenuhr und an seinem Rande mit Canna indica und Rhabarberstauden besetztes Rondell warf.“
Wir legen jedes Wort auf die Goldwaage
Ich hätte hier (sorry, geschätzter Herr Fontane!) am liebsten erst mal ein paar Punkte gesetzt. Beim „Deep Reading“ haben wir uns stundenlang mit diesem Einstiegssatz beschäftigt. „In Front“ – ist das eine Vorahnung aufs Buch, klingt darin schon die „gesellschaftliche Front“ an, oder ist es nur räumlich zu verstehen? Die rechtwinklige Anordnung der Gebäude – starr und monumental oder ruhig und behütet?
Spiegelt sich darin die „Enge“, die „Fassade“ im Sinne der Geschichte wider? Würde es für unser Verständnis helfen, eine Skizze dieses Settings zu zeichnen? Klingt in „Canna indica“ etwas Exotisches an – und warum? Und was will uns die Sonnenuhr sagen? Ist sie „archaisch“? Deutet sie zusammen mit den breiten Schatten an, wie die Zeit vergeht?
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Wo beginnt die „Überinterpretation“?
Nicht nur einmal habe ich mich während des Seminars gefragt, wo die „Überinterpretation“ beginnt. Sollte man wirklich jedes einzelne Wort so auf die Goldwaage legen? Die Kunst liegt Duszat zufolge darin, auszuwählen, mit welchen Begriffen oder Fragen man sich länger beschäftigen sollte. Einige lösten sich ohnehin beim Weiterlesen rasch auf. (Wie man dies entscheiden soll, weiß ich nach Kursende allerdings immer noch nicht …)
An zwei Abenden haben wir eigene Texte auf diese Weise gelesen. Dabei haben wir den „Reifegrad“ der Texte ignoriert: „Wir müssen davon ausgehen, dass die Schreibenden jedes Wort genau so gemeint haben, sonst funktioniert die Methode nicht“, so Duszat. „Deep Reading“ bewertet die Texte anderer nicht, sondern betrachtet sie objektiv und bringt den Schreibenden wertvolle Erkenntnisse darüber, wie ihre Wortwahl auf andere wirkt. Eine originelle Art des Feedbacks.
Den Stil anderer zu imitieren, erweitert den Horizont
Hilfreich fand ich die Schreibübungen zu den Texten. Zu Effi Briest sollten wir den Anfang umschreiben und dabei Orte und Charaktere austauschen, aber Stil und Satzstruktur beibehalten. So habe ich den ersten literarischen Bandwurmsatz meines Lebens produziert! Es erweitert sicher unseren Horizont, gelegentlich den Schreibstil anderer zu imitieren. Gerade dann, wenn sie völlig anders schreiben als wir.
In diesem Tempo einen ganzen Roman zu lesen, ist unmöglich. „Deep Reading“ eignet sich eher dazu, die Anfänge literarischer Texte oder einzelne Passagen genau zu studieren. Nicht zuletzt die klugen Beobachtungen der anderen Teilnehmerinnen haben meinen Blick erweitert und geschärft.
Ich empfinde diese Lesetechnik aber als extrem anstrengend und freue mich, nun wieder in meinem gewohnten Tempo zu lesen. Was ich mitgenommen habe: Es lohnt sich, beim Lesen gelegentlich innezuhalten und sich zu fragen, was der/die Autor:in über das Offensichtliche hinaus gemeint haben könnte.