Wir befinden uns gerade mitten im NaNoWriMo: Jedes Jahr im November stürzen sich Autor:innen in aller Welt darauf, innerhalb eines Monats die Rohfassung ihres Romans zu schreiben … Das lyrische Gegenstück dazu findet im Februar statt: Im NaHaiWriMo, dem National Haiku Writing Month, schreiben hartgesottene Haiku-Fans jeden Tag ein Gedicht. Warum sind diese Dreizeiler, die ursprünglich aus Japan stammen, überall auf der Welt so beliebt? Und: Wie schreibt man eigentlich so ein Haiku?
Zunächst die Eckdaten. Haiku gelten als die kürzeste Gedichtform der Welt. Es geht darin traditionell um die Jahreszeiten, Natur oder Vergänglichkeit. Bei modernen Haiku sind die Themen freier, aber stets wird ein berührender Moment in Worte gefasst und mit anderen geteilt. Die letzte Zeile ist meist eine überraschende oder humorvolle Wendung. Ein gelungenes Haiku spricht beim Lesen unsere Sinne an und klingt noch weiter in uns nach. So wie das folgende Gedicht, das die japanische Dichterin Chiyo-ni im 18. Jahrhundert verfasst hat:
Regen im Frühjahr.
Es breitet sich das Lächeln
der Welt im Feld aus.
Die 5-7-5 Regel
Wer nachzählt, merkt: Die erste und letzte Zeile haben jeweils fünf Silben, und die mittlere hat sieben Silben. Diese „5-7-5 Regel“ hört man häufig in kreativen Schreibkursen, sie ist aber in der internationalen Haiku-Szene umstritten. Warum? In der japanischen Sprache werden die Wörter in sogenannte Moren unterteilt – Lauteinheiten, die nicht unseren Silben entsprechen. Ein Zeichen der Hiragana oder Katakana-Schriften steht jeweils für eine More. Die „5-7-5 Regel“ bezieht sich im Japanischen folglich nicht auf Silben, sondern auf diese Lauteinheiten. Wenn wir unsere Haiku auf Deutsch verfassen, können wir uns daran nur grob orientieren, denn unsere Sprache funktioniert anders.
Wir dürfen unsere Haiku also prinzipiell freier und ohne strenge Silbenvorgabe schreiben! Als Faustregel können wir uns „drei Zeilen mit insgesamt 17 Silben“ merken. Mehr sollten es nicht werden, kürzer geht immer. Ich finde es trotzdem reizvoll, so lange an den Formulierungen zu feilen, bis alles ins „5-7-5 Schema“ passt. Letztlich ist aber wichtiger, dass sich das fertige Gedicht stimmig anfühlt.
Was lernen wir mit Haiku übers Schreiben?
Wer den Einstieg sucht, wird im Internet schnell fündig. Es gibt unzählige Haiku-Gesellschaften, Websites, Wettbewerbe, Zeitschriften … und natürlich findet man auch Übersetzungen traditioneller japanischer Vorbilder. Stöbern lohnt sich, denn auch wer sich sonst nicht für Lyrik begeistern kann, lernt mit Haiku einiges übers Schreiben:
I. Kürzer fassen
Oft (be)schreiben wir in unseren Texten alles möglichst ausführlich. Dabei brauchen wir gar nicht viele Worte, um das auszudrücken, was wir sagen möchten. Manches wird sogar klarer, indem wir es reduzieren. Wie eine Skizze, die mit wenigen Strichen das Wesentliche einfängt und Raum für Interpretation lässt. Bei kurzen Textformen wie Flash Fiction oder Haiku haben wir nicht viel Platz: So lernen wir automatisch, uns von Wort-Ballast zu trennen.
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II. Aufmerksamer werden
Ein Insekt auf einem Blatt. Ein Sonnenuntergang im Herbst. Wenn wir Haiku lesen oder schreiben, lenken wir unseren Blick auf solche scheinbar alltäglichen Dinge. Wir schulen unsere Beobachtungsgabe und bekommen nebenbei ein „literarisches Achtsamkeitstraining“. Besonders dann, wenn wir einfach mit dem Notizbuch in die Natur gehen und unsere Eindrücke vor Ort festhalten.
III. Schneller schreiben
Haiku eignen sich perfekt für kleine Schreibeinheiten zwischendurch. Wie mit einem Schnappschuss können wir Momente und Stimmungen rasch einfangen. Warum nicht im nächsten Urlaub ein Haiku-Tagebuch schreiben? Und weil die Gedichte so kurz sind, kann man sie auch gut auf Social Media teilen, vielleicht kombiniert mit einem Foto …
Leg gleich los: Mit diesem Schreibtipp
Du hast Lust bekommen, sofort loszudichten? Dann habe ich noch einen kleinen Schreibtipp für dich: Stresse dich im ersten Schritt nicht mit der kurzen Form oder der Silbenzahl, sondern lass einfach deine Umgebung, die Natur oder ein Foto auf dich wirken. Schreibe ein paar Minuten lang drauflos und bringe einen längeren Text zu Papier.
Achte vor allem auf deine Sinne: Was hörst du, was fühlst du, was riechst du …? Im zweiten Schritt greifst du Passagen aus deinem Text heraus, die sich für dein Gedicht eignen. Nach und nach „verdichtest“ du so deinen Text zu einem Haiku. Schreibe dabei möglichst in einfachen Worten und in der Gegenwart. Je mehr wir das üben, desto öfter fallen uns „Haiku-Momente“ auf, die wir einfangen können.
Viele japanische Dichter:innen waren vom Zen-Buddhismus inspiriert und haben sich damit auch in den Schreibfluss gebracht. Der große Dichter Bashō beschrieb das im 17. Jahrhundert so: „Es gibt zwei Arten, zu dichten. Bei der einen wird das Gedicht, bei der anderen verfasst man es.“ Er meinte damit in etwa, dass wir beim Schreiben eins werden sollten mit der Natur, um unsere Kreativität zu aktivieren und unsere Empfindungen auszudrücken. Wenn uns das gelingt, entsteht unser Gedicht wie von selbst. Wenn wir dagegen angestrengt über jedes Wort nachgrübeln, ist das eher hinderlich.
So machen wir das auch beim Gateless Writing: Wir schalten unseren kritischen Geist aus, kommen entspannt in den Schreibfluss und genießen es, kreativ zu sein. Bei meinen virtuellen Haiku-Schreibworkshops fließen unsere Gedichte wie von Zauberhand aufs Papier. Und wir dürfen uns dabei ein bisschen so fühlen wie der alte Zen-Meister Bashō …
Du weißt nicht, was du auf deine Weihnachtskarten schreiben sollst? Du möchtest einem lieben Menschen etwas Persönliches schenken? Wie wär’s mit einem stimmungsvollen Haiku! Im Weihnachtshaiku-Workshop fangen wir winterliche Momente ein und schreiben zauberhafte Miniaturgedichte. Perfekt zum Verschicken und Verschenken!
Erstmals veröffentlicht am 17. Februar 2022. Überarbeitet am 12. November 2023.