Shitty first draft? Den gibt’s hier nicht!

„The first draft of anything is shit“, fand schon Ernest Hemingway. Anne Lamott begründet das Konzept des shitty first draft in ihrem Schreibklassiker Bird by Bird so: Indem wir uns gestatten, erst einmal den größten Sch… zu Papier zu bringen, befreien wir uns vom Perfektionismus. Denn der steht unserem lockeren Schreiben im Weg. So weit die Idee.

Beim Gateless Writing glauben wir trotzdem nicht an dieses Konzept. Ganz im Gegenteil! Wer schon mal in einem meiner Schreibworkshops mitgeschrieben hat, weiß auch, warum: Dort entstehen in einer kurzen, konzentrierten Schreibzeit Texte, die alles Mögliche sind. Berührend. Komisch. Nachdenklich. Philosophisch. Essayistisch. Literarisch. Düster. Poetisch. Kraftvoll. Authentisch. Experimentell.

Eines sind diese Entwürfe jedoch niemals: Shitty.

Genauso unpassend finde ich den Begriff des vomit draft, den ich neulich in dem Buch The Memoir Project von Marion Roach Smith kennengelernt habe. Sie vergleicht das Schreiben darin mit einem schmerzhaften, üblen Akt des Herauswürgens …

Was für ein unangenehmes Bild für diesen magischen Akt, bei dem wir unsere Gedanken fließen lassen, kreativen Flow erleben und Klarheit finden. Um danach von anderen gehört, gelesen und gesehen zu werden.

Werte deine kreative Leistung nicht ab

Shit. Vomit. Diese Begriffe beschreiben etwas, das abstoßend, eklig und wertlos ist. Wir wollen es schnell loswerden und spülen es in der Toilette runter. Auf Nimmerwiedersehen!

Doch wenn wir unser kreatives Schaffen auf diese Weise abwerten, prägt das unwillkürlich unser Mindset. Würden wir über andere unfertige Dinge in unserem Leben auch so negativ reden? Indem wir Entwürfe als shitty begreifen, nehmen wir uns die Chance, sie zu würdigen, zu sichten und ihr Potenzial zu erkennen: Denn wie wichtig kann unser Wortmüll schon sein?

Vielleicht schrecken wir sogar davor zurück, zu viel Mühe in etwas zu investieren, das zwangsläufig mies sein muss. Und so verschwindet ein weiterer Entwurf in unserer Schublade … oder landet gleich im Papierkorb. Schade. Vielleicht war es ein besonders starker Text, in dem wir eingefangen hatten, was wir wirklich sagen wollten.

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„Shitty“ zu denken kann für Selbstzweifel sorgen

„You are free to write the worst junk in the world“, erlaubt uns Schreib-Guru Natalie Goldberg. Und viele Schreibende empfinden das Konzept des shitty first draft tatsächlich als befreiend.

Bei anderen sorgt es dagegen für Selbstzweifel: Wir werten damit nicht nur den Text selbst ab, sondern auch das, was von uns darin steckt. Unsere ungeordneten Gedanken, Erinnerungen und Ideen. Und schon ist sie wieder da, die Stimme in unserem Kopf, die uns einreden will, wir könnten nicht schreiben.

Nun könnte man einwenden, shitty beziehe sich eher auf die Struktur oder den Schreibstil, die noch nicht ausgefeilt sind. Aber was, wenn auch diese Elemente im ersten Entwurf gar nicht so schlecht waren? (Manchmal passiert es sogar, dass wir einen Text so oft umschreiben, dass von seinem ursprünglichen Zauber kaum noch etwas übrig bleibt!)

Natürlich müssen wir Texte überarbeiten, bevor wir sie veröffentlichen. Und natürlich ist das Schreiben nicht immer nur zauberhaft, spielerisch und angenehm. Gelegentlich haben wir Durststrecken oder stoßen auf Schwierigkeiten, vor allem bei längeren Projekten. Aber der erste Entwurf ist ein wertvoller Teil dieses Entstehungsprozesses. Egal, wie er uns gelungen ist: Er ist unser erster Schritt auf dem Weg zum fertigen Text. Ohne ihn wäre da nämlich: Nichts!

Feiere deine Entwürfe

Beim Gateless Writing gehen wir also liebevoll mit unseren Entwürfen um und begeben uns auf Schatzsuche. Wir lesen sie einander vor und blicken ausschließlich auf die Stärken. Wir fragen uns: What did we love? Was hat uns berührt? Was hat funktioniert? Was ist der Kern der Geschichte, die wir erzählen wollen?

Indem andere Menschen ihre Hörerfahrung mit uns teilen und Dinge wahrnehmen, die uns beim Schreiben vielleicht gar nicht bewusst waren, erscheint uns unser Entwurf in einem neuen Licht. Allmählich lernen wir, auf unsere Intuition zu vertrauen. Wir gewinnen Autonomie und entdecken unsere individuelle Schreibstimme. Eine Erfahrung, die uns beflügelt und unser Schreiben nachhaltig transformiert.

Feiern wir also den einzigartigen ersten Entwurf! Finden wir dafür wertschätzende Bilder, denn er ist der Rohdiamant, den wir schleifen und polieren werden. Der Stein, aus dem wir unsere Geschichte herausmeißeln dürfen. Oder das Samenkorn, aus dem eine Pflanze wachsen wird.

Du hast Lust, deine Entwürfe liebevoll zu betrachten? Dann schau online im Schreibsalon, den Summer Sessions oder der speziellen Feedback Session vorbei. Oder gönn dir einen Schreiburlaub an einem inspirierenden Ort! In lockerer Runde zeigen wir dir deine Schreibstärken auf und du bekommst tiefere Einsichten in das, was Texte stark und berührend macht.

Erstmals veröffentlicht am 4. April 2022. Überarbeitet am 24. April 2024.

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